nach vorne denken… ohne einen Blick zurück zu werfen? Mittlerweile ist das Ende des Zweiten Weltkrieges 75 Jahre her und immer häufiger ist die Rede vom Ende der Zeitzeug*innenschaft. Wer zum Kriegsende noch ein Kind war, ist heute über 80 Jahre alt und bald nicht mehr in der Lage, von der eigenen Geschichte zu erzählen. Kommende Generationen werden sich Themen wie der Shoah und dem Zweiten Weltkrieg also zunehmend auf andere Weise zuwenden müssen. Aber wie geht das ohne Zeitzeug*innen?
Aus welchen Perspektiven kann ich auf die Zeit des Nationalsozialismus blicken? Erkennen wir Kontinuitäten des Denkens und Handelns von damals? Welche Dokumente hinterlassen uns Opfer und Täter des Nationalsozialismus? Wie kann ich heute in meiner Umgebung historisch aktiv werden und forschen? Auf welche Art und Weise verarbeite ich Geschichte? Diese Fragen müssen wir uns in Zeiten stellen, in denen rechtsextremes Gedankengut vermehrt Zustimmung findet, in denen Anschläge auf religiöse Stätten verübt werden und Verbrechen im Nationalsozialismus am Stammtisch und in Parlamenten verharmlost und geleugnet werden.
Gemeinsam mit Referent*innen aus der Friedens- und Gedenkstättenarbeit könnt ihr in verschiedenen Workshops diesen Fragen auf den Zahn fühlen. Sei mit dabei!
Planänderung: Aufgrund niedriger Anmeldezahlen und krankheitsbedingter Absagen von Referent*innen werden bei "nach vorne denken" 2020 nur zwei Workshops angeboten (siehe unten).
Alle Infos auf einen Blick:
Als Juleica-Inhaber*in kannst du mit dieser Veranstaltung deine Karte verlängern!
Programm:
(9:00 - Rundgang Gedenkstätte)
bis 10:00 – Anreise
10:00 – Begrüßung und Einführung
10:30 – Workshop I
12:30 – Mittagessen
13:15 – Workshop II
15:15 – Kaffeepause
15:30 – Workshow & Abschlussprogramm
16:15 – Ende der Veranstaltung
Workshops:
1. Michael Quelle (Lokalhistoriker aus Stade): Spuren der NS-Opfer - Spuren der NS-Täter
Mittlerweile liegt das Ende des Zweiten Weltkrieges 75 Jahre zurück, die Spurensuche ist aber noch längst nicht abgeschlossen, die Aufarbeitung der Verbrechen des Nationalsozialismus noch nicht beendet. Der Workshop soll den Teilnehmenden einen Überblick geben, wie nach Opfern der "Euthanasiemorde", der Zwangsarbeit, der Kriegsgefangenschaft, der in den Konzentrationslagern Umgekommenen recherchiert werden kann. Darüber hinaus soll aber auch die Täterforschung in den Blick genommen und der Frage nachgegangen werden, was heute noch über regionale NS-Täter in Erfahrung gebracht werden kann. Abschließend erfahren die Teilnehmenden, in welchen Regionen und zu welchen Opfergruppen auch 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges noch dringend eine Aufarbeitung notwendig ist, wo sie also konkret forschen können und wie sie das am besten anstellen. Der Referent des Workshops, Michael Quelle, hat 1987 eine Staatsexamensarbeit über die „Rotenburger Anstalten 1933 – 45“ geschrieben und aktuell gerade eine Recherche zu allen NS-Opfergruppen im Landkreis Stade beendet.
3. Juliane Hummel (Stiftung niedersächsische Gedenkstätten) & Andreas Ehresmann (Gedenkstätte Lager Sandbostel): Umgang mit historischer Bausubstanz in Gedenkstätten und Erinnerungsorten
Viele NS-Gedenkstätten befinden sich an den Orten des historischen Geschehens und oftmals sind noch Bauten oder Baureste der einstigen Zwangslager vorhanden. Gerade in Sandbostel ist ein bundesweit einmaliges Ensemble des früheren Lagerbaus noch zu sehen.
Diese Relikte werden heute als museale Großexponate begriffen und im Zusammenhang mit ihnen ist öfters von „steinernen Zeugen“ die Rede, die dem Ort eine „authentische Aura“ verleihen und die Geschichte des Orts „begreifbar“ machen. Erst in jüngster Zeit rückten diese baulichen Überlieferungen auch in den Fokus von Denkmalpfleger*innen und es taten sich unter anderem Fragen zum konservatorischen Umgang auf.
Im Workshop wollen wir zum Beispiel diskutieren, welchen Stellenwert diesen Relikten in der pädagogischen Vermittlungsarbeit künftig zukommen soll bzw. zukommen kann, welche musealen und didaktische Ansätze in Zusammenhang mit ihnen von Gedenkstättenträgern erörtert bzw. praktiziert werden, was sie von den üblichen, unter Denkmalschutz stehenden Objekten unterscheidet und welche fachlichen Schwierigkeiten sich an ihren dauerhaften Erhalt anknüpfen.
3. Dr. Susann Lewerenz (KZ-Gedenkstätte
Neuengamme): Was haben Kolonialismus und Nationalsozialismus miteinander zu tun – und welche Nachwirkungen haben sie bis heute?
Kolonialismus und Nationalsozialismus werden in der schulischen wie außerschulischen Bildungsarbeit bis heute meist getrennt voneinander
behandelt – mit weitreichenden Folgen im Bereich der Erinnerungskultur, aber auch auf das Bewusstsein für ihre Nachwirkungen in der Gesellschaft der Gegenwart. Anliegen des Workshops ist es,
anhand konkreter Beispiele die vielfältigen Verflechtungen zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus aufzuzeigen. Unter anderem werden Biografien von People of Color behandelt, die unter
nationalsozialistischer Herrschaft lebten. Des Weiteren werden koloniale Aspekte des nationalsozialistischen „Vernichtungskrieges“ in Osteuropa in den Blick genommen. Auf diese Weise möchte der
Workshop Impulse für verflechtungsgeschichtliche Ansätze in der Bildungsarbeit geben und zugleich zu einer rassismuskritischen sowie multiperspektivischen und inklusiven Erinnerungskultur
anregen.
4. Ruurd van Schuijlenburg & Ben Middelkamp (Künstler/NL): Die Männer aus Putten - Kreativ-Workshop
Der Workshop thematisiert „die Männer aus Putten“, einer niederländische Gemeinde, 70 Kilometer östlich von Amsterdam. In der Nähe des Dorfes
verübten niederländische Widerstandskämpfer in der Nacht zum 1. Oktober 1944 einen Anschlag auf ein Fahrzeug der Wehrmacht. Einen Tag später wurden 660 Männer aus Putten bei einer großen Razzia
gefangen genommen und in das Konzentrationslager Neuengamme und dessen Außenlager), darunter auch das KZ Neuengamme, deportiert. Von dort kamen 46 von ihnen auf einem der Todesmärsche ins
KZ-Auffanglager im Stalag X B Sandbostel. Nur zwölf überlebten.
Ruurd van Schuijlenburg stammt selbst aus Putten und berichtet gemeinsam mit Ben Middelkamp von der Razzia und ihrer Bedeutung für diejenigen,
die dort geblieben sind, während des Krieges und auch danach. Sie zeigen ihren eigenen Umgang mit Erinnerungen und Eindrücken des Geschehenen, die sie in einem Projekt künstlerisch verarbeitet
haben. Auch die TeilnehmerInnen sollen durch Zeichnungen ihren Erfahrungen Ausdruck geben, indem sie sich auf eigene Art und Weise mit der Umgebung des Lagers, mit den Gesichtern der in
Sandbostel umgekommenen Männern und mit dem Schicksal der Gruppe aus Putten auseinandersetzen.
5. Michael Freitag-Parey (Gedenkstätte Lager
Sandbostel): Zeitzeugengespräch mit Johann Dücker
Vor 75 Jahren zog ein Todesmarsch mit Häftlingen mehrere Außenlager des KZ Neuengamme durch das kleine Dorf Volkmarst. Johann Dücker war
damals neun Jahre alt. Er sah, wie zwei KZ-Häftlinge bei einem Fluchtversuch erschossen und auf einem Acker verscharrt wurden. Die Toten wurden nie gefunden. Im Jahr 2006 ließ Johann Dücker einen
Gedenkstein auf seinem Grundstück aufstellen. Es ist bis heute das einzige Denkmal auf dem Weg des Todesmarsches von Bremen-Farge nach Bremervörde im April 1945.
Nach dem positiven Feedback aus dem vergangenen Jahr, haben wir uns dazu entschieden, wieder ein Zeitzeugengespräch in das Angebot von “nach
vorne denken” aufzunehmen. Anstatt eines Workshops wird euch in diesem Programmpunkt also ein offener Austausch mit Johann Dücker über seine Erlebnisse und sein Gedenken erwarten!